... ihre Wimpern einen Bruchteil ihrer Umgebung. Es war schwierig für sie, etwas zu erkennen, da auch ihr Verstand dumpf und schwer schien und die Ausschnitte verschwommener Bilder, die sie wahrnahm nicht einzuordnen vermochte. Da waren mehrere Gestalten im Zimmer, welche sich um sie herumbewegten. War da nicht Sunu? Sie versuchte verzweifelt ihn durch eine Bewegung, einen Laut auf sich aufmerksam zu machen, doch es ging nicht. Sie konnte weder die Glieder noch die Lippen bewegen. Nein, schrie es in ihr – er war gegangen. Sie lauschte auf ihren Herzschlag, er schien kaum wahrnehmbar und sehr, sehr langsam. Wieder holte sie die Dunkelheit ein. Als sie das nächste Mal etwas erkannte waren es Priester, die seltsame Gesänge und Gebetsformeln vorbrachten und Gefäße mit Weihrauch schwangen. Sie wurde hochgehoben und hatte das unsinnige Gefühl zu schweben. Die Gänge des Palastes glitten wie im Nebel an ihr vorüber. Der Park, die Fackeln, ein schwankendes Boot? Dann, nachdem sie wieder eine Weile nichts gefühlt hatte, nahm sie eine unheimliche Kälte an ihrem Rücken wahr. Wieder öffnete sie mit größter Anstrengung die Augen einen winzigen Spalt. Ängstlich rollten die kaum sichtbaren Pupillen hinter dem Vorhang der Wimpern hin und her. Eine hohe seltsam leicht wirkende Decke über ihr, bemalt mit Szenen aus dem Totenreich. Immer wieder nahm sie das unheimliche Antlitz des hundsköpfigen Seths wahr. Ihr Blick irrte zur Seite. „Nein“, schrie es stumm in ihrem Inneren, „lasst mich nicht sterben!“ Sie hatte erkannt, um was es sich bei den großen Steintischen links und rechts von ihr handelte: Sie befand sich im Haus des Todes, zur Vorbereitung auf das jenseitige Leben. Sie war umgeben von Toten, zum Teil bereits aufgeschnitten und von Totenpriestern, die ihrer unheimlichen Arbeit nachgingen. Als sich einer von ihnen mit einem Arm voller glänzender Instrumente näherte, schien Tujas Herzschlag vollends auszusetzen und sie sank zurück in die Dunkelheit des Vergessens.
*
Sunu saß immer noch auf seinem Bett. Er hatte einen Alabasterkrug mit Wein geleert, ohne die Flüssigkeit in Becher zu schenken, doch nichts konnte seine aufgewühlten Gedanken beruhigen. Immer wieder geisterten Bilder von der stummen starren Gestalt Tujas durch seinen Sinn und immer wieder sah er ihre Augen. Wie konnten die Augen einer Toten noch nach ihrem Ableben so lebendig aussehen und um Hilfe flehen? Er konnte einfach nicht glauben, dass sie tot ...
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