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 | ... sich auf ihre Schulter legte und schrie. Erschrocken wich die Person zurück. Keuchend und tränenüberströmt schlug sie die Augen auf und war dankbar dafür, wo sie sich befand. Dankbarer, als jemals für etwas anderes in ihrem Leben. Sie sah ihren Besucher entgeistert an und wischte sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr zwischen Augen und Nase klebte. „Scheiß Traum, Entschuldigung.“ Doch genauso erschrocken war sie, als dieser Jemand ihr antwortete: „Macht nichts, ist schon OK.“ – Ihr blieb der Mund offen stehen. Sie schluckte. War das Möglich? Seit Mira verschwunden war, hatte sie kein einziges Wort mehr mit irgendwem wechseln können. Der Mann war vielleicht ende 40, trug weite Kakihosen und einen breitkrempigen Filzhut. Die Augen wirkten starr und steingrau, seine Haut war braun, von Wind und Wetter gegerbt. Sylvia starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an, noch immer fassungslos. Der sprach zwar mit erheblichem Akzent, doch er war zu verstehen.– „Der Aufseher hat mir deine Macken beschrieben und dass du dich manchmal wie ein wildes Tier aufführst. Ist das Wahr?“ Prüfend blickten ihr die steingrauen Pupillen in die Augen.– Sylvia schüttelte den Kopf. Die Kette an ihren Füßen rasselte. Verbittert schloss sie die Augen. „Es war eine Dummheit, nichts weiter.“ Sie verachtete sich dafür. Jetzt war sie nicht besser als Mira. Mein Gott! Aber sonst würde sie noch ewig hier liegen müssen. „Ich werde ruhig sein, das verspreche ich ihnen. Es ist nur...“– Der Mann sah sie an. „Was?“– „Na, ich verstehe kein Wort von dem, was hier gesprochen wird. Sie sind der erste... Wissen sie, ich bin nämlich völlig unschuldig in diese ganze Sache hinein...“– Der Mann winkte ab. „Das eines von vornherein klar ist: Darüber werden wir niemals diskutieren. Die meisten beteuern, unschuldig verurteilt zu sein. Das ist Aufgabe der Richter, diese Fragen zu klären. Wir möchten damit nichts zu tun haben. Verstanden? Bei uns ist jeder Unschuldig. Ein unbeschriebenes Blatt sozusagen, solange du dir nichts zuschulden kommen lässt. Aber die wichtigste Regel ist, wir sprechen niemals wieder über das, was du getan oder nicht getan hast, verstanden?“ Die Worte entbehrten nicht einer gewissen Schärfe.– Sylvia nickte.– „Okay. Meine Frau bat, mich nach jemandem umzusehen, der ihre Muttersprache beherrscht. Also - Können wir dir vertrauen?“– Sylvia nickte wieder. „Ich werde mein Bestes tun.“ Und in diesem Augenblick ...
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